Ritonavir - günstige Pharmakokinetik, aber hohes Interaktionspotential

Unveränderter Text aus ZCT Heft 2, 1997

Ergänzungen am Ende des Textes

Hemmstoffe der Protease sind eine neue Klasse antiretroviraler Substanzen, welche die Bildung infektiöser HI-Virionen hemmen. Die Substanzen inhibieren die HIV-Protease und verhindern so die Weiterverarbeitung neu gebildeter viraler Polyproteine zu funktionstüchtigen Strukturproteinen und Enzymen. Ritonavir (NORVIR) ist ein Chemotherapeutikum aus dieser Gruppe, das etwa zur gleichen Zeit wie Saquinavir und Indinavir eingeführt worden ist. [1]

 

Strukturformel Ritonavir

Antivirale Aktivität

Ritonavir hemmt bei Konzentrationen von etwa 0,1 µmol/l die Replikation von HIV-1 in vitro. Da die Substanz über einen anderen Mechanismus seine Hemmwirkung entfaltet als die Nukleoside, werden auch Mutanten erfaßt, die zum Beispiel gegen Zidovudin (RETROVIR) resistent sind. Allerdings können sich auch gegen die Proteasehemmstoffe in vitro und in vivo Resistenzen entwickeln. Genaue Untersuchungen zeigten, daß die Resistenz in erster Linie auf eine spezifische Aminosäuresubstitution in der HIV-Protease (Kodon 82) zurückzuführen ist.

Pharmakokinetik

Die Bioverfügbarkeit von Ritonavir beträgt etwa 60% und ist damit etwa 10 mal höher als die von Saquinavir. Bei HIV-infizierten Patienten schwankten im Steady-State die mittleren Konzentrationen von Ritonavir im Plasma zwischen 11 und 3,7 mg/l. Das Verteilungsvolumen beträgt etwa 0,4 l/kg. Ritonavir wird zu 98 bis 99% an Plasmaeiweiße gebunden und mit einer Halbwertzeit von 3 bis 5 Stunden überwiegend hepatisch durch Cytochrom P450-abhängige Monooxygenasen eliminiert.

Arzneimittel-Interaktionen

In vitro Untersuchungen haben gezeigt, daß Ritonavir ein potenter Hemmstoff der Cytochrom P450 Isoenzyme CYP3A und CYP2D6 ist. Deshalb kann eine verzögerte Elimination von Arzneimitteln erwartet werden, die über diese hepatischen Enzyme metabolisiert werden. Dazu gehören Substanzen aus folgenden Gruppen: Steroidhormone, Antihistaminika, Kalziumantagonisten, trizyklische Antidepressiva, Neuroleptika, Antimykotika, Opioide und viele andere. Wenn Ritonavir zusammen mit Clarithromycin (KLACID) gegeben wird, kommt es zu einem Anstieg der AUC-Werte des Makrolid-Antibiotikums um etwa ein Drittel. Die Plasmakonzentrationen von Rifabutin (MYCOBUTIN) steigen unter ähnlichen Bedingungen sogar um ein Vielfaches - die gleichzeitige Gabe mit Ritonavir ist daher kontraindiziert. Eine gemeinsame Gabe mit Saquinavir - einem Proteasehemmstoff mit sehr geringer Bioverfügbarkeit - führt zu einem zehnfachen Anstieg der Plasmaspiegel von Saquinavir.
Die AUC-Werte anderer Arzneimittel können bei gleichzeitiger Gabe von Ritonavir aber auch reduziert werden. Ritonavir erniedrigt zum Beispiel die AUC von
Zidovudin um etwa 25%. Reduktionen um etwa 45% wurden mit Theophyllin (EUPHYLLIN u.a.) und mit Ethinylestradiol (PROGYNON C u. a.) beobachtet. Die Veränderungen der Kinetik des Sexualhormones sind von besonderer Bedeutung, da es in oralen Kontrazeptiva enthalten ist. Wenn solche Präparate genommen werden, muß die Dosis erhöht werden oder es müssen andere Methoden zur Empfängnisverhütung in Betracht gezogen werden.
Cotrimoxazol (BACTRIM u. a.) ist eine Mischung aus Trimethoprim und Sulfamethoxazol. Ritonavir verringert die AUC der Sulfonamidkomponente um etwa 20%, die AUC des Trimethoprims wird dagegen um etwa den gleichen Wert erhöht.

Klinische Erfahrungen

Da die Monotherapie mit Ritonavir rasch zur HIV-Resistenz führt, wurde das Chemotherapeutikum überwiegend in Kombination mit Hemmstoffen der reversen Transkriptase geprüft. [1,2,3] Von Interesse ist jedoch auch die Kombination mit Saquinavir, da praktisch keine Kreuzresistenz zu diesem Proteasehemmstoff besteht und die beiden Wirkstoffe sich in ihrer Kinetik günstig beeinflussen.
In einer umfangreichen Studie wurden mehr als 1000 Patienten in fortgeschrittenen Stadien der HIV-Infektion entweder mit Ritonavir in einer Dosierung von 2 x täglich 600 mg oder mit Placebo behandelt. Die Medikation wurde jeweils zusätzlich zu der bereits bestehenden antiretroviralen Therapie verabreicht. Nach etwa 6 Monaten (Medianwert) waren 4,8% der Patienten mit Ritonavir und 8,4% der Patienten in der Placebo-Gruppe verstorben.
Der Unterschied ist statistisch signifikant und entspricht einer Reduktion des Risikos um 43%. Ähnlich war der Effekt des Proteasehemmstoffs auf die Häufigkeit der AIDS-definierenden Erkrankungen. Die Laborparameter "Anzahl der CD4-Zellen im Blut" und "Gehalt an Virus-RNA im Blut" zeigten positive Veränderungen.
Auch bei bisher unbehandelten HIV-infizierten Patienten erwies sich Ritonavir (1200 mg / Tag) zum Beispiel in Kombination mit
Zidovudin (600 mg/Tag) und Zalcitabin (HIVID; 2,25 mg/Tag) als wirksam. Die Anzahl der CD4-Zellen im Blut stieg nach einem Jahr von 170 / µl Blut auf etwa den doppelten Wert. Auch eine andere Dreifach-Kombination ist angewandt worden: nach einer viermonatigen Therapie mit Ritonavir, Zidovudin und Lamivudin (EPIVIR; 300 mg/Tag) konnte bei 11 von 12 Männern mit einer HIV-Infektion das Virus nicht mehr nachgewiesen werden.
Übelkeit, Diarrhö, Erbrechen sowie periorale und periphere Parästhesien wurden während der Behandlung mit Ritonavir als häufigste Nebenwirkungen beobachtet. Die Reaktionen veranlaßten 17% der Patienten, die Behandlung abzubrechen. Allerdings beendeten auch unter Placebo 6% der Patienten die Einnahme. Ferner wurden bei den Patienten relativ häufig Anstiege der Transaminasen und der Triglyceride beobachtet. Mehrere Fallberichte zeigen, daß Ritonavir offenbar durch Kristallurie und Steinbildung zu nephrotoxischen Reaktionen bis zum Nierenversagen führen kann. [4,5]
Da zu Beginn der Therapie relativ hohe Serumspiegel auftreten können (Nebenwirkungen!), wird empfohlen, die Therapie mit niedrigeren Tagesdosen zu beginnen (2-mal 300 mg) und die Dosierung schrittweise innerhalb von 5 bis 10 Tagen bis zur Normdosis (2-mal 600 mg) zu steigern. NORVIR wird als Saft und in Form von Kapseln (zu 100 mg Wirkstoff) angeboten. Der Saft enthält 43% Ethanol. Ritonavir-haltige Arzneimittel müssen im Kühlschrank gelagert werden.

ZUSAMMENFASSUNG

Ritonavir (NORVIR) ist ein Hemmstoff der HIV-Protease mit hoher antiviraler Aktivität und günstigen pharmakokinetischen Eigenschaften. Der Arzneistoff wird hepatisch eliminiert. Problematisch können die möglichen Interaktionen mit zahlreichen anderen Arzneimitteln sein. Insbesondere in Kombination mit Nukleosiden (z. B. Zidovudin (RETROVIR) oder Zalcitabin (HIVID)] aber auch mit einem zweiten Proteaseinhibitor [Saquinavir (INVIRASE)] konnten beeindruckende klinische Resultate erzielt werden. Gastrointestinale Nebenwirkungen und Neuropathien waren die häufigsten unerwünschten Wirkungen. Welche der vielfältigen nun möglichen Kombinationstherapien sich in Zukunft zur Behandlung von HIV-infizierten Patienten durchsetzen werden, kann derzeit nicht beantwortet werden. Die Proteaseinhibitoren haben die Möglichkeiten der HIV-Therapie jedoch ganz wesentlich verbessert.

1. LEA AP, FAULDS D. Ritonavir. Drugs. 1996;52(4):541-6.

2. MARKOWITZ M, SAAG M et al. A preliminary study of ritonavir, an inhibitor of HIV-1 protease, to treat HIV-1  infection. N Engl J Med. 1995;333(23):1534-9.

3. DANNER SA, CARR A et al. A short-term study of the safety, pharmacokinetics, and efficacy of ritonavir, an inhibitor of HIV-1 protease. European-Australian Collaborative Ritonavir Study Group. N Engl J Med. 1995; 333(23):1528-33.

4. DUONG M, SGRO C et al. Renal failure after treatment with ritonavir. Lancet. 1996 Sep 7;348(9028):693.

5. CHUGH S, BIRD R et al. Ritonavir and renal failure. N Engl J Med. 1997 Jan 9;336(2):138.

 

Ergänzungen (März 2007)

 

Aufgrund der mäßigen Verträglichkeit in antiviral ausreichender Dosierung ist die antivirale Therapie mit Ritonavir heute obsolet. Es wird ausschließlich in niedriger Dosierung von 1 - 2 x täglich 100 (- 200) mg zur Verbesserung der Pharmakokinetik anderer Protease-Inhibitoren benutzt. Es ist üblich, die „Boosterung“ mit Ritonavir durch ein /r im Anschluss an den Substanznamen zu kennzeichnen. Bei niedriger Dosierung wird Ritonavir besser vertragen; es erhöht die Bioverfügbarkeit und verzögert die Elimination der anderen Protease-Inhibitoren. Daraus resultieren höhere Spitzen- und Talspiegel der Wirkstoffe; das Einnahmeschema wird vereinfacht, die Compliance verbessert. Pharmakologische Grundlage dieser Anwendung ist die ausgeprägte Hemmung von CYP3A4 im Darm und in der Leber durch Ritonavir.

 

KEMPF DJ, MARSH KC et al. Pharmacokinetic enhancement of inhibitors of the human immunodeficiency virus protease by coadministration with ritonavir. Antimicrob Agents Chemother. 1997 Mar;41(3):654-60.

 

 

Ergänzungen (November 2012)

 

Aktuelle Informationen in englischer Sprache über geeignete Arzneimittel, Behandlungsrichtlinien, aktuelle klinische Studien und andere Aspekte der antiretroviralen Therapie finden Sie unter www.aidsinfo.nih.go

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