Unveränderter Text aus Heft 2, 2008
Aktuelle Ergänzungen am Ende des Textes
Antimikrobiell wirksame Arzneimittel sollten möglichst eine „selektive Toxizität“ aufweisen, also bereits in niedriger Konzentration den Erreger beseitigen, ohne die Funktionen der Wirtszellen zu
beeinträchtigen. In der antiretroviralen Therapie bedeutet dies, dass nach Wirkstoffen gesucht wird, die eines der drei HIV-spezifischen Enzyme hemmen, welche in der menschlichen Zelle nicht
vorkommen: die reverse Transkriptase, die Protease und die Integrase. Während die Hemmung der beiden zuerst genannten Enzyme mit den heute verfügbaren Arzneimitteln schon lange möglich ist, wurde die
Entwicklung der Integrase-Inhibitoren zwar seit vielen Jahren vorangetrieben, die Suche war aber zunächst nicht erfolgreich. Erst nach der Entdeckung der „Strangtransfer-Inhibition“ und der
Entwicklung entsprechender Testmethoden, war die systematische Untersuchung verschiedener Substanzklassen möglich. Nun steht mit Raltegravir (ISENTRESS) ein erster Integrase-Inhibitor zur Verfügung,
der grundsätzlich neue Ansätze in der antiretroviralen Therapie ermöglicht. Von seiner chemischen Struktur her handelt es sich um ein Hydroxypyrimidinon-Derivat.
Nach der reversen Transkription der HIV-RNA in DNA erfolgt die Integration der viralen DNA in das Genom des Menschen. Dieser Prozess verläuft in mehreren
Schritten. Zunächst bindet das Integrase-Enzym im Zytoplasma an die virale DNA und bildet damit einen sogenannten Präintegrationskomplex. Anschließend schneidet die Integrase ein Dinukleotid an
beiden Enden der viralen DNA heraus, wodurch neue 3’-Hydroxylgruppen innerhalb des Präintegrationskomplexes entstehen (3’-Prozessierung). Der entsprechend veränderte Präintegrationskomplex wird in
den Zellkern transportiert, dort bindet die Integrase an die DNA der menschlichen Zellen und katalysiert die irreversible, kovalente Integration der viralen DNA in die Wirts-DNA („Strangtransfer“).
Dieser zuletzt genannte Schritt wird durch Raltegravir spezifisch gehemmt. Etliche weitere Substanzen mit ähnlichem Wirkmechanismus sind zur Zeit in der klinischen Entwicklung, die Wirkstoffgruppe
wird als „Strangtransfer-Inhibitoren“ bezeichnet.[1]
Raltegravir hemmt die isolierte HIV-1-Integrase bereits in Konzentrationen von 2 bis 7 nmol/l. In Zellkulturexperimenten wurde auch bei Zusatz von Humanserum bereits bei Konzentrationen von etwa 20
bis 30 nmol/l eine deutliche Inhibition der viralen Vermehrung beobachtet.[2]
Mehrere Mutationen des HIV sind beschrieben worden, die eine deutliche Reduktion der Empfindlichkeit der Integrase verursachen können. An isolierter HIV-Integrase von Patienten mit Therapieversagen
konnte gezeigt werden, dass sowohl die 3’-Prozessierung als auch der Strangtransfer betroffen sein kann.[3] Um die Risiken der Resistenzentwicklung zu reduzieren, muss auch Raltegravir in Kombination
mit anderen antiretroviral wirksamen Substanzen verabreicht werden.
Nach oraler Gabe wird Raltegravir rasch resorbiert, es kann nüchtern oder zusammen mit Nahrung
eingenommen werden. Im „steady-state“ werden im Plasma Spitzenkonzentrationen von 4,5 µmol/l erreicht, die Talkonzentrationen liegen bei 0,14 µmol/l und die AUC-Werte (0 bis 12 Std.) wurden mit 14,2
µmol/l x h berechnet. Raltegravir wird zu etwa 83 % an Plasmaproteine gebunden. In der Leber erfolgt die UGT1A1-vermittelte Metabolisierung zum Glukuronid. Im Urin wurden sowohl Raltegravir als auch
Raltegravir-Glukuronid nachgewiesen, die 9 % bzw. 23 % der verabreichten Dosis entsprachen. Raltegravir wird mit einer terminalen Halbwertzeit von ca. 9 Stunden ausgeschieden. Eine Dosisanpassung bei
Patienten mit reduzierter UGT1A1-Aktivität aufgrund eines genetischen Polymorphismus ist nicht notwendig.[4]
Es waren keine klinisch relevanten pharmakokinetischen Unterschiede zwischen Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz und gesunden Probanden feststellbar. Da der Grad der Dialysierbarkeit von
Raltegravir nicht bekannt ist, sollte eine Verabreichung unmittelbar vor einer Dialysesitzung vermieden werden. Es waren keine klinisch relevanten pharmakokinetischen Unterschiede zwischen Patienten
mit mäßig eingeschränkter Leberfunktion und gesunden Probanden feststellbar. Der Einfluss einer schweren Leberfunktionsstörung auf die Pharmakokinetik von Raltegravir ist bislang nicht untersucht
worden.[2]
Unter dem Stichwort „Raltegravir“ werden im Internet derzeit insgesamt 30 klinische Studien aufgeführt,
in denen die Eigenschaften des ersten Integraseinhibitors untersucht werden (ClinicalTrials.gov). Im direkten Vergleich mit Plazebo wurde zum Beispiel gezeigt, dass dieses Arzneimittel in Dosierungen
von 200 mg, 400 mg oder 600 mg jeweils zweimal täglich verabreicht, zu deutlichen therapeutischen Effekten führte (Reduktion der Viruslast, Anstieg der CD4-Zellzahlen). Eine Dosisabhängigkeit der
Wirkung wurde nicht beobachtet. In den weiteren Studien wurde daher die Dosierung auf zweimal täglich 400 mg festgelegt.[5]
In zwei noch nicht abgeschlossenen, für einen Zeitraum von insgesamt drei Jahren angelegten, plazebokontrollierten Doppelblindstudien (BENCHMRK 1 und BENCHMRK 2) werden die Verträglichkeit und
Wirksamkeit des Arzneimittels in dieser Dosierung in Kombination mit einer optimierten Hintergrundtherapie bei HIV-infizierten Patienten mit nachgewiesener Resistenz gegen jeweils mindestens ein
Arzneimittel aus drei verschiedenen Klassen (nukleosidische und nicht-nukleosidische Hemmstoffe der reversen Transkriptase, Proteaseinhibitoren) untersucht. Die weiteren Bestandteile der
Kombinationstherapie für den einzelnen Patienten werden durch den Prüfarzt vor der Randomisierung anhand der jeweiligen Therapie-Anamnese des Patienten sowie der eingangs durchgeführten genotypischen
und phänotypischen Resistenztests bestimmt. Die Patienten waren zuvor durchschnittlich 10 Jahre lang mit 12 antiretroviralen Arzneimitteln behandelt worden (jeweils Medianwerte).
Als Endpunkte der Studien wurden die CD4-Zellzahlen und die Konzentration der viralen RNA im Blut der Patienten ausgewertet. Die zusammengefassten Daten aus beiden Studien zeigten bei der
vorliegenden Zwischenauswertung nach 24 Wochen eine deutlich überlegene Wirkung von Raltegravir im Vergleich mit Plazebo. Bei 75,5% der mit Raltegravir behandelten Patienten (n=462) lag die Anzahl
der viralen RNA-Kopien unter 400 / ml Blut, in der Plazebogruppe (n=237) war dies nur bei 39,3% der Patienten der Fall. Die entsprechenden Zahlen für Patienten mit Werten unter 50 Kopien / ml Blut
lauten 62% (Raltegravir) und 33,3% (Plazebo). Auch bei den CD4-Zellzahlen zeigte sich die Wirksamkeit des Virustatikums: der mittlere Anstieg der Helferzellen betrug 89 Zellen / µl Blut (Raltegravir)
im Vergleich zu 35 Zellen / µl Blut in der Plazebogruppe.[3,4]
Aus einer Phase-II-Dosisfindungsstudie liegen Langzeitdaten zur Wirksamkeit des Präparates bei vorbehandelten Patienten über einen Zeitraum von bis zu 48 Wochen vor. Zu diesem Zeitpunkt konnten 64 %
der Patienten HIV1-RNA-Werte von < 400 Kopien/ml aufrechterhalten.[2]
Raltegravir erwies sich in der klinischen Prüfung als gut verträglich. Zu den am häufigsten berichteten
unerwünschten Wirkungen der Kombinationstherapie gehörten gastro-intestinale Störungen (Übelkeit, Flatulenz, Diarrhö etc.), Kopfschmerzen und Müdigkeit. Die Abbruchrate in den Phase-III-Studien
aufgrund von unerwünschten Wirkungen lag bei 1,9% (Plazebo: 2,1%).[6]
Raltegravir wird durch Glukuronidierung metabolisiert. Es ist kein Substrat, Inhibitor oder Induktor von Cytochrom P450 (CYP)-Enzymen oder des Transportproteins P-Glykoprotein. Der Plasmaspiegel von
Raltegravir kann durch gleichzeitige Gabe von Induktoren der Glukuronosyltransferase UGT1A1, wie zum Beispiel Rifampicin (RIFA u.a.), reduziert werden. Falls eine gleichzeitige Gabe unumgänglich ist,
kann eine Verdopplung der Raltegravir-Dosis in Erwägung gezogen werden. Der Einfluss anderer Induktoren dieses Phase-II-Enzyms ist bisher nicht bekannt, schwache Induktoren der UGT1A1, wie
Efavirenz (SUSTIVA), Rifabutin (MYCOBUTIN) oder Johanniskraut-Präparate, können
zusammen mit Raltegravir in üblicher Dosierung gegeben werden. Atazanavir (REYATAZ) ist ein starker Inhibitor der UGT1A1 und verursacht bei gleichzeitiger Gabe einen Anstieg der Plasmakonzentrationen von Raltegravir. Bei den im Rahmen der
klinischen Prüfung entsprechend behandelten Patienten führte diese Kombination jedoch nicht zu erkennbaren Verträglichkeitsproblemen.[6]
Raltegravir (ISENTRESS) ist der erste zur antiretroviralen Therapie verfügbare Integrase-Inhibitor. Neben den Hemmstoffen der reversen Transkriptase, den
Protease-Inhibitoren und Eintrittsinhibitoren steht damit eine weitere Klasse von Wirkstoffen zur Behandlung HIV-infizierter Patienten zur Verfügung. Insbesondere unter dem Aspekt der
Resistenzentwicklung stellt dies einen wesentlichen Fortschritt dar. Das Arzneimittel hemmt die virale Vermehrung in vitro bereits in nanomolaren Konzentrationen. Es wird zweimal täglich oral in
Kombination mit anderen Virustatika eingenommen. Raltegravir wird nicht oxidativ verstoffwechselt, sondern in einer Phase-II-Reaktion glukuronidiert. Bei Patienten mit einer bereits optimierten
antiretroviralen Therapie bewirkte es einen deutlichen zusätzlichen therapeutischen Effekt im Vergleich zu Plazebo. Es erwies sich in der klinischen Prüfung als gut verträglich, Interaktionen mit
anderen Arzneimitteln, die die Glukuronidierung beeinflussen, sind möglich, aber in den meisten Fällen nicht therapeutisch relevant. Raltegravir stellt eine wichtige neue Behandlungsoption vor allem
für Patienten dar, deren Viren gegen mehrere andere antiretrovirale Wirkstoffe resistent sind. Weitere Erfahrungen sind notwendig, um einen möglichen Einsatz als primäres Therapeutikum beurteilen zu
können.
1. LATAILLADE, M. et al.
AIDS Pat Care STD 2006;20:489-501
2. Fachinfo ISENTRESS (SPC), Dezember 2007
3. MALET, I. et al.
Antimicrob Agents Chemother 2008; 52:1351-1358
4. CROXTALL
JD, LYSENG-WILLIAMSON KA et al. Raltegravir.
Drugs. 2008;68(1):131-8.
5. GRINSZTEJN B, NGUYEN BY et al. Safety and efficacy of the HIV-1 integrase inhibitor
raltegravir (MK-0518) in treatment-experienced
patients with multidrug-resistant virus: a phase II randomised controlled trial. Lancet. 2007 Apr 14;369:
1261-9.
6. ISENTRESS Full Prescribing Information, Merck & Co. INC.
Ergänzungen (Dezember 2009)
Seit der Erstellung und Veröffentlichung dieses Artikels in der Zeitschrift für Chemotherapie (Heft 2, 2008) sind zahlreiche
weitere Arbeiten über Raltegravir publiziert worden. Insbesondere soll an dieser Stelle auf die folgenden Arbeiten hingewiesen werden:
1. STEIGBIGEL RT, COOPER DA et al. Raltegravir with optimized background therapy for resistant
HIV-1 infection. N Engl
J Med. 2008 Jul 24;359(4):339-54.
2. COOPER DA, STEIGBIGEL RT et al. Subgroup and resistance
analyses of raltegravir for resistant HIV-1 infection. N Engl J Med. 2008 Jul 24;359(4):355-65.
3. LENNOX JL, DEJESUS E et al. Safety and efficacy of raltegravir-based versus
efavirenz-based combination therapy in
treatment-naive patients with HIV-1 infection: a multicentre, double-blind randomised controlled trial. Lancet. 2009 Sep
5;374(9692):796-806.
4. EMERY S, WINSTON A. Raltegravir: a new choice in HIV
and new chances for research. Lancet. 2009 Sep 5;374(9692):764-6.
Hinweise: 1. HIV 2014 / 2015 - ein umfangreiches Buch ist unter hivbuch.de kostenlos als PDF-Datei verfügbar (809 Seiten, 4,43 MB)
|