Unveränderter Text aus Heft 1 / 2018
Ergänzungen am Ende des Textes
„Renaissance alter Antibiotika“ – unter diesem Titel berichteten wir vor einigen Monaten über den Trend, ältere Antibiotika wieder einzusetzen, um der fortschreitenden Resistenzentwicklung zu begegnen. Am Beispiel des Nitrofurantoins (diverse Warenzeichen) wurden die damit verbundenen Probleme diskutiert. Es wurde aufgezeigt, welche präklinischen und klinischen Daten fehlen und warum deren nachträgliche Erstellung so bedeutend ist (s. Archiv der Zeitschrift, Heft 6, 2015). Die Datenlage ist bei Nitroxolin (NITROXOLIN FORTE u.a.) noch dürftiger als bei Nitrofurantoin. Die Substanz ist bereits seit vielen Jahrzehnten bekannt, jedoch wurde sie kaum zur Therapie verwendet und sie ist international nicht verbreitet. Seit der Wirkstoff in der aktuellen S3-Leitlinie zur Behandlung unkomplizierter Harnwegsinfektionen empfohlen wird, steht es in einer Reihe als Alternative zu Fosfomycin (MONURIL u.a.), Pivmecillinam (X-SYSTO) und anderen.1 Chemisch handelt es sich um ein 8-Hydroxychinolin-Derivat, das mit Magnesium und anderen zweiwertigen Kationen Chelatkomplexe bildet.
Abbildung 1. Strukturformel von Nitroxolin (5-Nitro-8-hydroxychinolin; MM 190,1). Die intensiv gelbe Substanz bildet mit zweiwertigen Kationen Chelatkomplexe.
Antibakterielle Eigenschaften
Für die Unterscheidung zwischen sensiblen und resistenten Bakterien wird eine Konzentration von 16 mg/l zugrunde gelegt.2 Dieser Wert wird im Serum nach oraler Gabe nicht erreicht, im Urin liegen die Konzentrationen jedoch darüber. Wenn diese Grenzkonzentration angewandt wird, gehören sowohl grampositive (z. B. S. aureus) als auch gramnegative Erreger (z. B. E. coli) zum Spektrum. Im Universitätsklinikum Jena wurden mehr als 3.000 Urinisolate hinsichtlich ihrer Empfindlichkeit gegenüber Nitroxolin und Nitrofurantoin vergleichend untersucht. Einige Enterobacteriaceae waren ESBL-Bildner. Bei 253 E. coli-Isolaten wurden MHK90-Werte von 4 mg/l für Nitroxolin und 32 mg/l für Nitrofurantoin ermittelt.3
In der Liste der üblicherweise empfindlichen Erreger werden auch Candida albicans und diverse andere Candida-Arten aufgeführt und als klinisch relevant bezeichnet.2 Studien, die eine therapeutische Wirksamkeit des Arzneimittels bei Candida-Infektionen belegen, gibt es allerdings nicht. Als Mechanismus der antimykotischen Wirkung wird eine Hemmung der RNA-Polymerase angeführt, die bakteriostatische Wirkung wird mit der Komplexierung zweiwertiger Ionen erklärt.2
Pharmakokinetische Eigenschaften
Die Standarddosierung beträgt dreimal täglich 250 mg oral. Nitroxolin wird rasch und fast vollständig resorbiert. Im Plasma liegen die Spitzenkonzentrationen bei 7 mg/l, die AUC-Werte wurden mit etwa 16 mg/l x h berechnet. Nitroxolin wird primär renal eliminiert. Die mittleren 24-Stunden-Konzentrationen des Arzneistoffs und des Sulfatmetaboliten lagen nach Gabe einer Einzeldosis bei maximal 0,5 und 27,8 mg/l; nur 1% lag als freies Nitroxolin vor, der Sulfatmetabolit machte 38% und das Glukuronid 56% aus.4 Im Urin werden kurzfristig maximale Konzentrationen im Bereich von 200 bis 600 mg/l erreicht. Bei eingeschränkter Nierenfunktion mit Werten von mehr als 2 mg Kreatinin / 100 ml Serum ist das Arzneimittel kontraindiziert.2
Therapeutische Verwendung
Nitroxolin wird laut Fachinformation für die folgenden Indikationen empfohlen: „Akute und chronische Infektionen der ableitenden Harnwege (z. B. Zystitis, Urethritis, Ureteritis) mit Nitroxolin-empfindlichen Bakterien und Sprosspilzen, Rezidivprophylaxe.“ Klinische Studien nach heutigen Standards, die diese Indikationen belegen, wurden nicht publiziert. In einer Übersichtsarbeit werden insgesamt 26 unkontrollierte, zwei kontrollierte und eine Postmarketinganalyse zusammengefasst.5 Von den insgesamt beschriebenen gut 11.000 Patienten stammen 9.800 aus der Postmarketing-Beobachtung, mehr als 1.000 aus unkontrollierten und nur ein kleiner Anteil aus vergleichenden klinischen Studien. Eine Gruppe von 51 Patienten wurde mit 49 Norfloxacin-behandelten Patienten mit postoperativer und unkomplizierter Harnwegsinfektion verglichen. Das Therapieergebnis war in beiden Gruppen etwa gleich (60%), unerwünschte Ereignisse wurden nicht berichtet.5
Im Vergleich zu anderen Harnwegstherapeutika, wie Fosfomycin oder Nitrofurantoin, ist die Anwendung von Nitroxolin laut Fachinformation nicht auf unkomplizierte Harnwegsinfektionen bei Frauen beschränkt. Eine aktuelle klinische Studie zeigte keine überzeugende Wirksamkeit bei insgesamt 30 weiblichen und männlichen geriatrischen Patienten mit Harnwegsinfektionen in einem Lebensalter zwischen 72 und 98 Jahren.6 Die meisten waren aufgrund diverser Faktoren als „komplizierte Harnwegsinfektionen“ anzusehen, eine Pyelonephritis war allerdings ein Ausschlusskriterium. Die Therapie wurde bei zwei Patienten vorzeitig beendet wegen gastrointestinaler Nebenwirkungen. Bei drei Patienten wurde eine deutliche Abnahme der Empfindlichkeit der Erreger während der Behandlung registriert: die MHK-Werte nahmen um mindestens das Vierfache zu. Da ein mikrobiologisch abgesicherter Therapieerfolg nur bei einem Patienten erreicht werden konnte, wurde die Studie vorzeitig abgebrochen. Zur Behandlung von Harnwegsinfektionen bei hospitalisierten, geriatrischen Patienten wird Nitroxolin daher nicht empfohlen.6
Unerwünschte Wirkungen, Toxizität
Gastrointestinale Störungen, wie Übelkeit, Erbrechen oder Diarrhö, sind häufige Nebenwirkungen; gelegentlich (<1%) kommt es zu allergischen Hauterscheinungen (Rötung, Juckreiz). Allergisch bedingte Blutbildveränderungen können auftreten (Thrombozytopenie), sehr selten (<0,01%) kann es laut Fachinformation zu neurologischen Nebenwirkungen, wie Müdigkeit, Schwindel und Gangunsicherheit kommen. Bei längerfristiger Anwendung sollten die Leberwerte regelmäßig kontrolliert werden.2
Harnwegsinfektionen sind bei schwangeren Frauen keine Seltenheit. Entsprechende Erfahrungen zur Wirksamkeit oder Sicherheit liegen mit Nitroxolin jedoch nicht vor. Da auch tierexperimentelle Studien zur Reproduktionstoxizität nicht durchgeführt wurden, wird von einer Anwendung bei Schwangeren abgeraten. Ein neurotoxisches Risiko kann für das Ungeborene nicht generell ausgeschlossen werden. Neurotoxizität wurde bei zahlreichen Säugetierspezies beschrieben.2
ZUSAMMENFASSUNG:
Nitroxolin (NITROXOLIN FORTE u.a.) ist ein lang bekanntes, wenig eingesetztes Harnwegstherapeutikum. Vor dem Hintergrund der Resistenzentwicklung gegen klassische Therapeutika wird Nitroxolin wieder empfohlen. Im Urin werden höhere Konzentrationen erreicht, als in vitro zur Hemmung typischer Erreger von Harnwegsinfektionen notwendig sind. Die klinischen Daten sind sehr limitiert und entsprechen nicht den heutigen Standardanforderungen. Prospektive Vergleichsuntersuchungen sollten durchgeführt werden, um eine bessere Einschätzung des Stellenwertes dieses Arzneimittels vornehmen zu können.
2. Fachinformation Nitroxolin forte, Juni 2017, RosenPharma
Ergänzung (März 2018)
Leserbrief an die Herausgeber zum Artikel:
Nitroxolin – eine alte Substanz, neu empfohlen
In der Zeitschrift für Infektionstherapie Heft 1 / 2018
Unter dem Motto „Renaissance alter Antibiotika“ wird in diesem Artikel über die Datenlage bei Nitroxolin berichtet, das zwar seit vielen Jahrzehnten bekannt, jedoch angeblich kaum zur Therapie verwendet und international nicht verbreitet ist. Zu der Einschätzung „kaum“ sei angemerkt, dass die Verordnungszahlen 2016 von Nitroxolin in Deutschland im GKV-Bereich immerhin 13,7% denen des sehr häufig verordneten Nitrofurantoin entsprachen
(http://arzneimittel.wido.de/PharMaAnalyst/;jsessionid=AD9E021BE0B60843987BA0E25F334B0B?0)
Nach der Besprechung seiner antibakteriellen und pharmakokinetischen Eigenschaften werden die Indikationen nach Fachinformation besprochen, wobei summarisch festgestellt wird, dass klinische Studien nach heutigen Standards, die diese Indikationen belegen, nicht publiziert wurden. Dies mag für eine Reihe der genannten Indikationen zutreffen, aber sicher nicht für die Therapie der unkomplizierten Zystitis.
Als Beleg dafür gilt die Arbeit von Naber et al 2014, die auch zitiert wurde (1). Es wurde zurecht festgestellt, dass in (dem ersten Teil) der Publikation, der eine Übersicht der bis damals publizierten Daten enthält, insgesamt 26 unkontrollierte, zwei kontrollierte und eine Postmarketinganalyse zusammengefasst wurden. Mit keinem Wort wird aber auf den zweiten Teil der Publikation eingegangen, der sich mit der Metaanalyse der individuellen Patientendaten (IPD) von insgesamt bis dato noch nicht veröffentlichten Daten von vier prospektiv, randomisierten, Patienten-verblindeten Studien mit insgesamt 466 Patienten befasst. Das Ziel dieser vier Studien war der Therapievergleich von Nitroxolin mit Cotrimoxazol (drei Studien) bzw. Norfloxacin (eine Studie) bei Patientinnen mit unkomplizierter Zystitis. Diese vier Studien wurden nach den in den 90er Jahren geltenden Richtlinien durchgeführt. Das damals akzeptierte primäre Zielkriterium war die Beseitigung der Erreger, damals allgemein definiert als Reduktion einer Bakteriurie <104 KBE/ml. Als Vergleichsantibiotika wurden Cotrimoxazol und Norfloxacin gewählt, die damals allgemein als Antibiotika der ersten Wahl anerkannt waren. Die Qualität der vier Studien erreichten nach dem Jaded Score eine gute Qualität (4 von maximal 5 Punkten). Das Ergebnis der IPD Metaanalyse ergab eine Nichtunterlegenheit von Nitroxolin gegenüber den Vergleichsantibiotika (Differenz <10%; 95% Konfidenzintervall).
Aus diesem Grunde wurde in der aktualisierten AWMF-S3-Leitlinie (2), die in dem Artikel ebenfalls zitiert wurde, Nitroxolin mit einem Empfehlungsgrad A für die Therapie der unkomplizierten Zystitis empfohlen. Dies erfolgte vor allem aufgrund dieser IPD Metaanalyse, dessen Evidenzgrad nach einem Klassifikationsschema in Anlehnung an das Oxford Centre of Evidence Based Medicine (1999) mit Ia (Systema-tische Übersichtsarbeit (mit hohem Homogenitätsgrad) mit randomisierten klinischen Studien) bewertet wurde.
Des weiteren wurde eine klinische Beobachtungsstudie bei insgesamt 30 weiblichen und männlichen geriatrischen Patienten mit Harnwegsinfektionen in einem Lebensalter zwischen 72 und 98 Jahren besprochen (3). Die meisten waren aufgrund diverser Faktoren als „komplizierte Harnwegsinfektionen“ anzusehen, eine Pyelonephritis war allerdings ein Ausschlusskriterium. Mit Recht wird auf die mangelhafte Erregerbeseitigung und die in Einzelfällen beobachtete Empfindlichkeitsabnahme hingewiesen. Leider wird aber nicht auch erwähnt, dass 85,7% der Patienten unter der Therapie symptomfrei wurden. Hier wäre eine Diskussion von Interesse gewesen, was denn in heutiger Zeit als prlmäres Zielkriterium gelten sollte, wo längst akzeptiert ist, dass eine asymptomatische – oder asymptomatisch gewordene – Bakteriurie zur Verhinderung von Rezidiven eher nützlich als schädlich ist (4). Natürlich ergibt sich aus einer solchen Beobachtungsstudie noch keine gesicherte Indikation, aber eine etwas differenziertere Diskussion wäre interessant gewesen.
Zusammenfassend kann klar festgestellt werden, dass die in der aktualisierten AWMF S3-Leitlinie „Harnwegsinfektionen“ ausgesprochene Empfehlung für Nitroxolin als ein Antibiotikum der ersten Wahl zur Behandlung der akuten unkomplizierten Zystitis wohl begründet ist. Für darüberhinausgehende Indikationen sind in der Tat prospektive Vergleichsuntersuchungen wünschenswert.
Literatur
2. Wagenlehner F, Schmiemann G, Fünstück R, Helbig S, Hofmann W, Hoyme U, Hummers-Pradier E, Kunze M, Kaase M, Kranz J, Kniehl K, Lebert C, Mandraka F, Mündner-Hensen B, Naber KG, Schneidewind L, Schmidt S, Selbach I, Sester U, Vahlensieck W, Watermann W.
Epidemiologie, Diagnostik, Therapie, Prävention und Management unkomplizierter bakterieller ambulant erworbener Harnwegsinfektionen bei erwachsenen Patienten. Aktualisierung 2017, S3-Leitlinie, AWMF Registernummer: 043/044.
Langversion:
http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/043-044l_S3_Harnwegsinfektionen_2017-05.pdf
Straubing, den 21. Febr. 2018
Prof. Dr. med. Dr. h.c. Kurt G. Naber
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