Unveränderter Text aus Heft 1, 2008
Ergänzungen am Ende des Textes
Der Eintritt des humanen Immundefizienz Virus (HIV) in eine Zelle des menschlichen Organismus ist komplex. Der Vorgang kann in die folgenden drei Abschnitte unterteilt werden:
1. Anheftung („attachment“) des Virus über das Hüllprotein gp120 an den CD4-Rezeptor,
2. Bindung an einen Korezeptor nach einer Konformations-änderung des gp120 und
3. Fusion von Virus und Zelle.
Alle drei Schritte können durch spezifische Wirkstoffe gehemmt werden, die als Virustatika zur Behandlung der HIV-Infektion in Frage kommen; zusammen werden sie als „entry inhibitors“ oder „Eintrittsinhibitoren“ bezeichnet.[1] Ein Fusionsinhibitor ist bereits seit Jahren im Handel [Enfuvirtid (FUZEON)] und wird erfolgreich bei HIV-Infizierten als Reservemittel angewandt, nachteilig ist allerdings, dass die Substanz nicht oral gegeben werden kann. Große Erwartungen werden in die so genannten Korezeptor-Inhibitoren gesetzt. Mit Maraviroc (CELSENTRI) steht nun ein erstes Medikament aus dieser Gruppe zur Therapie antiretroviral vorbehandelter Erwachsener in Kombination mit anderen Substanzen zur Verfügung.[2] Der Wirkstoff wurde aus fast 1000 verschiedenen Verbindungen zur Weiterentwicklung ausgewählt, weil aufgrund der Daten aus verschiedenen in vitro-Tests günstige pharmakologische Eigenschaften erwartet werden konnten.[3]
Hemmung des Eintritts von
HIV
Mitte der 90er Jahre wurde entdeckt, dass es zwei verschiedene Korezeptoren gibt, über die das HI-Virus in die menschlichen
Zellen gelangt. Sie dienen normalerweise natürlichen Chemokinen als Rezeptoren und werden als CCR5- und CXCR4-Rezeptoren bezeichnet. HI-Viren weisen eine Präferenz für einen dieser Rezeptoren auf und
werden entsprechend als R5-Viren oder X4-Viren bezeichnet. Die häufigeren R5-Viren infizieren bevorzugt Makrophagen und wurden früher „M-trope“ Viren genannt, die selteneren, aber möglicherweise
virulenteren X4-Viren dringen vorwiegend in T-Zellen ein („T-trope Viren“), sie sind in der Regel erst in späteren Stadien der HIV-Infektion zu finden. Dualtrope Viren können beide Rezeptortypen
benutzen. Gegen beide Rezeptortypen wurden Antagonisten entwickelt. Die Entwicklung von Inhibitoren gegen den CCR5-Rezeptortyp ist von besonderem Interesse, weil bekannt ist, dass Menschen mit einem
angeborenen Defekt des Rezeptors gegen eine HIV-Infektion geschützt sind. Bei homozygoten Trägern dieser genetischen Mutante („Delta-32-Deletion“), das sind ca. 1% der weißen Bevölkerung, wird eine
Infektion mit HIV verhindert, bei Heterozygoten verläuft die Progression langsam. [4]
Klinische HIV-Isolate werden durch den CCR5-Inhibitor bereits bei Konzentrationen von weniger als 1 ng/ml gehemmt. Maraviroc ist ein selektiver Inhibitor des CCR5. Daher muss vor der Anwendung mit
einem spezifischen Test nachgewiesen werden, dass ausschließlich R5-trope Viren vorliegen. Die Bedeutung dieser diagnostischen Maßnahme wird dadurch unterstrichen, dass bei etwa 60% der Patienten,
die nicht auf eine Behandlung mit Maraviroc ansprachen, zum Zeitpunkt des Therapieversagens ein CXCR4 nutzendes Virus nachgewiesen wurde.
Pharmakokinetische
Eigenschaften
Maraviroc wird in ausreichenden Mengen aus dem Magendarmtrakt resorbiert. Die empfohlene Dosierung beträgt zweimal täglich
150, 300 oder 600 mg in Abhängigkeit von der gleichzeitig angewandten Therapie, die durch Interaktionen das pharmakokinetische Verhalten von Maraviroc mehr oder weniger beeinflusst. Die
Bioverfügbarkeit ist variabel und liegt bei 23 bis 33%. Bei gesunden Probanden wurden die Konzentrationen durch ein fettreiches Frühstück um etwa ein Drittel reduziert; die Erfahrungen aus den
klinischen Studien zeigen jedoch, dass die Einnahme des Arzneimittels mit oder ohne Nahrung erfolgen kann. Der Wirkstoff wird zu 76% an Plasmaproteine gebunden, das Verteilungs-volumen wurde mit 2,8
± 0,9 l/kg berechnet.
Maraviroc wird über Cytochrom-abhängige Monooxy-genasen verstoffwechselt. Dabei spielt CYP3A4 offenbar die größte Rolle, andere Isoenzyme, wie CYP2C9, CYP2D6 und CYP2C19, tragen nur unwesentlich zum
Metabolismus bei. Ein relevanter induktorischer oder inhibitorischer Effekt von Maraviroc auf diese Enzyme wurde nicht nachgewiesen. Wichtigstes Stoffwechsel-produkt ist ein am Stickstoff
desalkylierter Metabolit, dessen pharmakologische Aktivität gering ist. Die Substanz wird hauptsächlich mit den Fäces eliminiert (etwa 25% unverändert); nur 8% einer Dosis von 300 mg erscheinen als
unverändertes Maraviroc im Urin. Nach intravenöser Gabe wurde die Eliminationshalbwertzeit mit etwa 13 Stunden bestimmt. [2]
Obwohl die renale Clearance von Maraviroc bei alleiniger Gabe gering ist, kann sie deutlich erhöht sein, wenn gleichzeitig Hemmstoffe der Cytochrome, wie zum Beispiel Proteaseinhibitoren
[Ausnahme: Tipranavir/r (APTIVUS)], eingenommen werden. In diesen Fällen soll das
Dosierungsintervall auf 24 Stunden verlängert werden, wobei nicht zwischen verschiedenen Stufen der Niereninsuffizienz unterschieden wird. Bei einer Komedikation mit Saquinavir/r (INVIRASE plus NORVIR) soll das Medikament nur alle 48 Stunden (Clcr < 50 bis 30 ml/ min) bzw. nur alle 72 Stunden (Clcr < 30
ml/ min) eingenommen werden. Bei leichter oder mittlerer Einschränkung der Leberfunktion (Child-Pugh A oder B) sind die Blutspiegel (AUC-Werte) um etwa 25 bis 46% erhöht. Insgesamt sind die
Erfahrungen bei Patienten mit Leberinsuffizienz noch nicht ausreichend, um eindeutige Empfehlungen zur Anpassung der Dosierung geben zu können. Studien zur Pharmakokinetik des Medikamentes bei
Kindern und alten Patienten wurden bisher nicht durchgeführt. [2,5]
Empfohlenes Dosierungsintervall |
Creatinin-Clearance (CLcr) (ml/min) |
||
50 bis 80 ml/min |
< 50 bis 30 ml/min |
< 30 ml/min |
|
Ohne Komedikation mit starken |
Keine Anpassung des Dosierungsintervalls notwendig |
||
Bei Komedikation mit starken |
Alle 24 Stunden |
||
Bei Komedikation mit Saquinavir/ |
Alle 24 Stunden |
Alle 48 Stunden |
Alle 72 Stunden |
Klinische Studien
In zwei Doppelblindstudien (Motivate 1 und Motivate
2) wurden die klinische Wirksamkeit und Verträglichkeit von Maraviroc in Kombination mit anderen antiretroviralen Wirkstoffen überprüft. Es wurden nur vorbehandelte Patienten eingeschlossen, die
zuvor mindestens jeweils eine Substanz aus drei verschiedenen Substanzklassen erhalten hatten oder bei denen Erreger isoliert wurden, die gegen drei Substanzklassen resistent waren. Das Ergebnis der
Behandlung mit Maraviroc plus „optimierte Begleittherapie“ wurde mit dem Resultat unter Placebo plus „optimierte Begleittherapie“ verglichen. Patienten, die mit einem Ritonavir-geboosterten
Proteasehemmer (Ausnahme: Tipranavir/r, Fosamprenavir) behandelt wurden, erhielten das Prüfmedikament in einer Dosierung von ein- oder zweimal täglich 150 mg, die anderen bekamen die doppelte Dosis. In beiden Studien war nach 24
Wochen die Viruslast bei den Maraviroc-behandelten Patienten signifikant deutlicher gefallen, als bei den Placebo-behandelten. Bei etwa jedem zweiten Patienten im Maraviroc-Arm (48,5%) konnte die
Viruslast unter 50 Kopien pro Milliliter Blut gesenkt werden, dies wurde in der Kontrollgruppe nur bei 24,6% erreicht. Das günstige Ergebnis konnte auch bei der Auswertung nach 48 Wochen bestätigt
werden, der Unterschied zwischen den Gruppen war zu diesem Zeitpunkt noch größer (46,8% vs. 16,1%). [5,6]
Mit der einmal täglichen Gabe von Maraviroc wurde ebenfalls ein signifikant besseres Ergebnis als unter Placebo erzielt, die zweimal tägliche Einnahme war jedoch bei gleich guter Verträglichkeit
etwas wirksamer und wird daher als Standarddosierung empfohlen. Bei der Dosierung sind die möglichen Interaktionen durch Hemmung oder Induktion der metabolisierenden Monooxygenasen zu beachten. Die
Normdosis von 300 mg wird halbiert, wenn gleichzeitig ein Proteasehemmer gegeben wird (Ausnahmen: Tipranavir/r, Fosamprenavir); die Dosis von Maraviroc muss dagegen auf 600 mg verdoppelt werden,
wenn Efavirenz (SUSTIVA) als Bestandteil der Begleittherapie gegeben wird, ohne
gleichzeitige Verabreichung eines Inhibitors des CYP3A4.
Verträglichkeit, Interaktionen
Maraviroc erwies sich in der klinischen Prüfung als gut verträglich. Die
dosislimitierende Nebenwirkung von Maraviroc war bei höheren Dosierungen bis zu 1200 mg das Auftreten einer orthostatischen Hypotonie, die aber in den klinischen Studien bei der empfohlenen Dosierung
von 300 mg nicht relevant war. Insgesamt wurden 426 Patienten mit zweimal täglich 300 mg Maraviroc behandelt. Gastrointestinale Symptome, wie Übelkeit, Erbrechen oder Diarrhöen waren in den Studien
häufig, jedoch gab es keine Unterschiede zwischen dem Maraviroc- und dem Placebo-Arm. Unter Maraviroc traten die folgenden Ereignisse häufiger auf als im Placebo-Arm: Infektionen der oberen Atemwege,
Herpes-Infektionen, Husten, Exantheme und Myalgien. Erhöhte Transaminasen oder CPK-Werte wurden bei ca. 2 bis 3% der Patienten im Maraviroc-Arm beobachtet und waren damit etwas häufiger als in der
Placebo-Gruppe. Da die Zahl der in den klinischen Studien Behandelten niedrig ist, sind Häufigkeitsangaben über selten aufgetretene unerwünschte Wirkungen problematisch und gestatten derzeit noch
keine abschließende Beurteilung der Verträglichkeit. Die Abbruchraten in der Motivate-1-Studie lag nach 48 Wochen in einem ähnlichen Bereich wie in der Placebogruppe (4,7% vs. 5,9%). [2,5,6]
Maraviroc ist ein Substrat des CYP3A4 und des Efflux-Transporters P-Glykoprotein. Die Plasmakonzentrationen von Maraviroc werden durch gleichzeitig gegebene Hemmstoffe oder Induktoren der Cytochrome
verändert. Dies macht unterschiedliche Dosierungsempfehlungen in Abhängigkeit von der Begleitmedikation notwendig. Weitere CYP-Inhibitoren, die eine Halbierung der empfohlenen Maraviroc-Dosis
erforderlich machen, sind zum Beispiel Itraconazol (SEMPERA u.a.), Clarithromycin (KLACID u.a.) oder Telithromycin (KETEK);
andererseits muss die Dosis auf 600 mg erhöht werden, wenn gleichzeitig Rifampicin (RIFA u.a.), Carbamazepin (TEGRETAL u.a.) oder Phenytoin (ZENTROPIL u.a.) gegeben werden.
ZUSAMMENFASSUNG
Maraviroc (CELSENTRI) ist ein antiretroviral wirksames Medikament mit neuartigem Wirkmechanismus. Es blockiert die
CCR5-Rezeptoren, über die das HI-Virus in die Zellen des menschlichen Organismus gelangt („Eintrittsinhibitor“). Es wird zusammen mit anderen antiretroviral wirksamen Medikamenten zur Behandlung der
HIV-Infektion bei vorbehandelten Patienten angewandt. Voraussetzung ist der Nachweis von ausschließlich CCR5-tropen Viren, wie sie bei etwa 80% der neu HIV-Infizierten vorliegen. Maraviroc wird
zweimal täglich oral in einer Dosis von 300 mg gegeben. Bei gleichzeitiger Gabe von Cytochrom-Induktoren [z. B. Efavirenz (SUSTIVA)] muss die Dosis verdoppelt werden, bei gleichzeitiger Gabe von
Cytochrom-Inhibitoren, wie zum Beispiel Lopinavir/r (KALETRA) wird die Dosis halbiert. Maraviroc wird durch
Cytochrom-abhängige Monoxygenasen metabolisert, ist aber selbst kein Inhibitor oder Induktor dieser Enzyme. Die Halbwertzeit liegt bei 13 Stunden, das Verteilungsvolumen ist hoch. In den
Placebo-kontrollierten Studien zur klinischen Wirksamkeit und Verträglichkeit konnte bei vorbehandelten Patienten mit optimierter Begleittherapie die signifikante Überlegenheit des Wirkstoffes
gezeigt werden. Nach 24 bzw. 48 Wochen war die Reduktion der Viruslast signifikant deutlicher als unter Placebo. Die Verträglichkeit war gut, eine abschließende Beurteilung der Verträglichkeit ist
derzeit aufgrund der begrenzten Erfahrungen allerdings noch nicht möglich. Insgesamt stellt die neue Therapieoption einen wesentlichen Fortschritt in der Behandlung der HIV-Infektion dar. In Zukunft
wird vor allem von Interesse sein, ob Maraviroc auch bei nicht vorbehandelten Patienten ein ähnlich gutes Nutzen-Risiko-Profil zeigt.
1. ESTE JA, TELENTI
A. HIV entry
inhibitors.
Lancet. 2007 Jul
7;370(9581):81-8.
2. Fachinfo CELSENTRI®, Pfizer Pharma
GmbH, Karlsruhe, September 2007
3. DORR P, WESTBY M et
al. Maraviroc (UK-427,857), a potent,
orally bioavailable, and selective small-molecule inhibitor of chemokine
receptor CCR5 with broad-spectrum anti-human immunodeficiency virus type 1 activity. Antimicrob
Agents Chemother. 2005 Nov;49(11):4721-32.
4. SAMSON, M. et al. Nature 1996; 382: 722-725
5. CARTER NJ, KEATING
GM. Maraviroc.
Drugs.
2007;67(15):2277-88.
6. PFIZER INC.
AVDAC Briefing Document, April 2007
Hinweise: 1. HIV 2014 / 2015 - ein umfangreiches Buch ist unter hivbuch.de kostenlos als PDF-Datei verfügbar (809 Seiten, 4,43 MB)
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