Fostemsavir - ein neuer Wirkstoff zur Therapie von Patienten mit multiresistenter HIV-Infektion

Unveränderter Texte aus Heft 3, 2021

 

 

Beim Eintritt von HIV in die Zellen des menschlichen Organismus können drei Phasen unterschieden werden: erstens die Anheftung („attachment“) mittels gp120 an CD4-Epitope der Zelle, zweitens die Korezeptorbindung an die Chemokinrezeptoren CCR5 oder CXCR4 und drittens die Fusion der Virushülle mit der Membran einer Wirtszelle. Jeder Schritt kann durch spezifisch wirksame Stoffe gehemmt werden. Derzeit sind der gegen CD4 gerichtete Antikörper Ibalizumab, der Fusionsinhibitor Enfuvirtid und der Korezeptor-Antagonist Maraviroc zur Therapie verfügbar. Alle haben gewisse Nachteile. Das Peptid Enfuvirtid und der Antikörper Ibalizumab müssen zum Beispiel parenteral verabreicht werden, Maraviroc wirkt nur bei Viren, die den CCR5-Korezeptor zum Eintritt benutzen.

 

Struktur und antivirale Wirkung

 

Fostemsavir (RUKOBIA) ist ein Prodrug des „Attachment-Inhibitors“ Temsavir. Es kann oral gegeben werden und lagert sich an das Glykoprotein gp120 des Virus an. Es handelt sich also um einen völlig neuen Wirkungsmechanismus, weshalb es keine Kreuzresistenzen mit anderen Wirkstoffgruppen gibt. Fostemsavir ist zur Therapie von Patienten mit einer Infektion durch mehrfach resistente HIV‑1 geeignet.1,2,3

 

Strukturformel Fostemsavir (MM 583,5 g/mol). Die Phosphonooxymethylgruppe wird bei der Resorption aus dem Magendarmtrakt abgespalten, der Wirkstoff Temsavir bindet an das virale Protein gp120.

 

Die Substanz bindet reversibel an die HIV-Glykoproteinuntereinheit gp120. Sie verhindert deren Konformationsänderung und als Konsequenz auch die Anheftung des Virus an den CD4-Rezeptor und damit den Eintritt in die Zelle. Die antivirale Aktivität gegen Subtypen von HIV‑1 ist sehr variabel, gegen HIV‑2 wirkt es nicht. Subtypen mit Polymorphismen wie S375H und M475I – zum Beispiel bei dem selten vorkommenden Subtyp CRF01_AE – gelten als natürlich resistent gegen Temsavir.

 

Pharmakokinetik

 

Die Dosierung von Fostemsavir beträgt zweimal täglich eine Retardtablette mit 600 mg. Das Prodrug wird im Dünndarm durch alkalische Phosphatase zu Temsavir verstoffwechselt, etwa zwei Stunden nach der Einnahme werden maximale Konzentrationen des aktiven Metaboliten im Plasma gemessen. Die absolute Bioverfügbarkeit liegt bei 27 %, sie nimmt mit einer fettreichen Mahlzeit zu. Die Plasmaproteinbindung beträgt 88 %, das Verteilungsvolumen wird auf 29,5 Liter geschätzt. Temsavir wird über Esterasehydrolyse (ca. ein Drittel) und über CYP3A4-vermittelte oxidative Wege (etwa 20 %) verstoffwechselt, nur etwa 3 % des Temsavir lassen sich unverändert im Urin oder den Fäzes nachweisen. Die terminale Halbwertzeit liegt bei etwa 11 Stunden.1,3

 

Klinische Studien

 

In Deutschland leben zurzeit etwa 100 Patienten mit einer Dreiklassenresistenz. Für diese Gruppe ist die Zusammenstellung einer wirksamen Kombinationstherapie oftmals unmöglich. Eine Substanz mit neuartigem Wirkungsmechanismus ist für die Patienten daher eine wichtige Option. In einer Phase‑3-Studie (BRIGHTE) konnte die Wirksamkeit bei diesen schwer behandelbaren Patienten nachgewiesen werden.3,4,5 Bei allen Studienteilnehmern lag ein Therapieversagen vor (> 400 Kopien pro ml Blut), sie erhielten den neuen Wirkstoff zusätzlich zu der bestehenden Medikation (Tabelle). Zu Beginn der Studie waren bei 272 von insgesamt 371 Teilnehmern nur noch maximal zwei andere HIV-Medikamente wirksam. Bei einer zweiten Kohorte von 99 Patienten reagierte das Virus auf keinen Wirkstoff mehr empfindlich. Während der Phase 1 zeigte sich eine rasche Reduktion der Viruslast, es bestand innerhalb von acht Tagen ein signifikanter Unterschied zur Placebogruppe. Nach 24 Wochen konnte ein Rückgang der viralen RNA auf Werte von weniger als 40 Kopien pro ml bei 53 % der Patienten festgestellt werden, nach 96 Wochen bei 60 %. Bei Viren von Patienten, bei denen die Behandlung nicht wirksam war, konnten häufig Veränderungen im viralen Glykoprotein gp120 nachgewiesen werden.

 

Tabelle: Klinische Studie mit Fostemsavir bei Patienten mit multiresistenter HIV-1-Infektion

 

 

Kohorte 1

(n = 272)

Kohorte 2

(n = 99)

Resistenzsituation

 

Ein oder zwei Substanzen sind noch wirksam

Keine Substanz ist wirksam

Diagnose AIDS

 

85 %

90 %

Therapie

Phase 1

(8 Tage, doppelblind)

 

Fostemsavir

+ ART*

vs.

Placebo

+ ART*

(anschließend

Phase 2)

[eine Placebo-kontrollierte Therapie wurde bei diesen Patienten nicht durchgeführt]

Therapie

Phase 2

(> 96 Wochen, offen)

Fostemsavir

+ OBT**

 

Fostemsavir + OBT**

Therapieerfolg*** nach 24 Wochen

53 %

37 %

Therapieerfolg***

nach 96 Wochen

60 %

37 %

 

* ART = antiretroviral therapy

** OBT = optimized background therapy

*** HIV-RNA < 40 Kopien / ml (% der Patienten)

 

Unerwünschte Wirkungen, Interaktionen

 

Während der kurzen Placebo-kontrollierten Phase der Studie waren die unerwünschten Ereignisse bei der Therapie mit Fostemsavir ähnlich wie in der Placebogruppe. Die am häufigsten beobachteten unerwünschten Wirkungen betrafen den Gastrointestinaltrakt (Übelkeit, Durchfall etc.). Darüber hinaus wurden Exantheme und Kopfschmerzen als Nebenwirkungen in den klinischen Studien registriert. Die schwerwiegendste unerwünschte Wirkung war das Immunrekonstitutions-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine entzündliche Reaktion auf asymptomatische oder residuale opportunistische Infektionen, die bei Patienten mit schwerem Immundefekt zu Beginn einer antiretroviralen Therapie auftreten können. Sie führen zu schweren klinischen Verläufen oder zur Verschlechterung von Symptomen. Entsprechende Beispiele sind Cytomegalovirus-Retinitis, mykobakterielle Infektionen und Pneumocystis-jirovecii-Pneumonie.1,3

 

Interaktionen mit anderen gleichzeitig gegebenen Medikamenten können vorkommen. Temsavir ist ein Substrat von CYP3A4, P-Glykoprotein (P-gp) und dem Breast Cancer Resistance Protein (BCRP). Bei gleichzeitiger Anwendung von Fostemsavir mit potenten CYP3A-Induktoren, wie z. B. Rifampicin, können die Plasmakonzentrationen von Temsavir erniedrigt werden. Die gleichzeitige Anwendung ist daher kontraindiziert. Inhibitoren der Cytochrom-abhängigen Enzyme, wie Cobicistat, Ritonavir und andere, erhöhen die Plasmakonzentrationen von Fostemsavir. Eine Dosisanpassung ist jedoch nicht erforderlich. Wenn Fostemsavir gleichzeitig mit Tenofoviralafenamid angewendet wird, liegt die empfohlene Dosis des Tenofovir-Prodrugs bei 10 mg.1

 

ZUSAMMENFASSUNG:

 

Fostemsavir (RUKOBIA) ist eine neue Option zur antiretroviralen Therapie für intensiv vorbehandelte Patienten mit mehrfachen viralen Resistenzen. Nach oraler Verabreichung wird der Wirkstoff Temsavir aus dem Prodrug freigesetzt und mit einer Halbwertzeit von etwa 11 Stunden eliminiert. Die klinischen Studien belegen einen guten Therapieerfolg, wenn mindestens noch eine weitere Substanz wirksam ist. Die Verträglichkeit des neuen Arzneimittels in den klinischen Studien war gut, einige Interaktionen mit anderen Arzneistoffen müssen beachtet werden. Die Zulassung von Fostemsavir ermöglicht neue Therapieoptionen und ist daher als wichtiger Fortschritt anzusehen. Die Entwicklung weiterer Wirkstoffgruppen ist wünschenswert, denn für eine effektive antiretrovirale Therapie sind immer zumindest zwei wirksame Substanzen erforderlich.

 

Literatur

 

1. Summary of Product Characteristics (SmPC) Rukobia (Fostemsavir). EMA www.ema.europa.eu

 

2. Hiryak K, Koren DE. Fostemsavir: A Novel Attachment Inhibitor for Patients With Multidrug-Resistant HIV-1 Infection. Ann Pharmacother. 2020 Sep 23:1060028020962424

 

3. Chahine EB et al. Fostemsavir: the first oral attachment inhibitor for treatment of HIV-1 infection. Am J Health-Syst Pharm 2021: 78: 376-388

 

4. Kozal M et al., BRIGHTE Trial Team. Fostemsavir in Adults with Multidrug-Resistant HIV-1 Infection. N Engl J Med. 2020 Mar 26;382(13):1232-1243

 

5. Lataillade M et al. Safety and efficacy of the HIV-attachment inhibitor prodrug fostemsavir in heavily treatment-experienced individuals: week 96 results of the phase 3 BRIGHTE study. Lancet HIV 2020; 7: e740–51.

 

 

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