Filgrastim G-CSF

ein Zytokin mit stimulierender Wirkung auf neutrophile Granulozyten

Unveränderter Text aus ZCT Heft 2, 1992

Aktuelle Ergänzungen am Ende des Textes

"Mit der Möglichkeit, körpereigene Stoffe mit immunmodulierender Wirkung in der Therapie einzusetzen, ergibt sich für die Infektiologie ein faszinierendes neues therapeutisches Konzept." Unter dieser Schlußfolgerung stand vor einigen Jahren ein Leitartikel in der "ZCT", in dem die Möglichkeiten der Zytokine als neue Therapeutika diskutiert wurden ("ZCT" 10: 33-35, 1989).

Seit einigen Monaten steht jetzt in der Bundesrepublik ein solches Zytokin zur Behandlung zur Verfügung: Filgrastim (NEUPOGEN) enthält "nicht-glykosilierten rekombinanten humanen Methionin Granulozyten-Kolonien stimulierenden Faktor" (r-metHuG-CSF). Das hydrophobe Protein besteht aus 175 Aminosäuren und wird gentechnologisch aus E. coli- Bakterien gewonnen, in die zuvor eine synthetisch hergestellte Kopie des humanen G-CSF Gens eingefügt wurde. Das rekombinante Protein unterscheidet sich von dem natürlichen humanen G-CSF durch einen zusätzlichen aminoterminalen Methioninrest sowie durch das Fehlen einer O-Glykosilierung. Das natürliche und das rekombinante Protein zeigen in vitro und in vivo vergleichbare pharmakologische Wirkungen. Die Konzentration des Wirkstoffes in NEUPOGEN beträgt 30 Millionen Einheiten (300 µg) pro Milliliter.



Wirkungsmechanismus und Wirkung auf die Hämatopoese

 

Hämatopoetische Wachstumsfaktoren üben ihre zellulären Wirkungen aus, indem sie mit Membranrezeptoren der Zielzelle interagieren. Rezeptoren für G-CFSF sind auf allen Zellen der Zellreihen der neutrophilen Granulozyten und Monozyten nachzuweisen; sie finden sich aber nicht auf anderen Granulozyten (Eosinophile und Basophile) und Lymphozyten. Durch die Bindung von G-CSF an seinen Rezeptor kommt es zu einer Abnahme der Zahl der Oberflächen-Rezeptoren, da der G-CSF-Rezeptor-Komplex internalisiert und abgebaut wird. Diese Prozesse sind notwendig, damit das Zytokin seine Wirkung entfalten kann. Im Knochenmark findet die Hämatopoese in Verbindung mit Stromazellen statt. Solche Interaktionen sind für die Blutbildung essentiell. Daraus folgt, daß der "Wachstumsfaktor" nicht wirken kann, wenn die Stromazell-Population schwer geschädigt ist oder fehlt.

Die Gabe von G-CSF bewirkt einen starken Anstieg der Neutrophilenzahl im peripheren Blut mit einem begrenzten Effekt auf die Monozyten. Die minimale wirksame Dosis beträgt etwa 3,5 µg/kg pro Tag. Zunächst wird kurzfristig ein vorübergehender Abfall der Neutrophilenzahl im peripheren Blut beobachtet, der durch eine Anlagerung der Leukozyten an Endothelzellen erklärt wird. Innerhalb kurzer Zeit kommt es zu einer Expansion des Reifungsspeichers des Knochenmarks: die neu produzierten, reifen neutrophilen Granulozyten werden innerhalb von 4 bis 5 Stunden in den Kreislauf abgegeben, während normalerweise diese Zellen erst nach etwa 5 Tagen im peripheren Blut erscheinen. Die Zahl der Neutrophilen geht über den Normbereich hinaus. Wiederholte tägliche Gaben von etwa 3 µg/kg bewirken eine annähernde Verdoppelung der Neutrophilen pro Tag. Die mehrfache Gabe von 60 µg/kg führte zu einem Plateau, das durch weitere Zufuhr beibehalten, aber nicht überschritten werden kann.

Von Bedeutung ist, daß die Substanz offenbar keine vorzeitige Erschöpfung des hämatopoetischen Systems bewirkt und nicht zu einer Konkurrenz zwischen den verschiedenen Zellreihen des Blutbildungssystems führt. Mit anderen Worten: bei Patienten mit schweren chronischen Neutropenien gab es auch bei langfristiger Behandlung (mehrere Monate) mit dem neuen Präparat keine Hinweise auf direkte Auswirkungen auf Thrombozyten oder Erythrozyten. Von Bedeutung für den therapeutischen Einsatz des Arzneimittels ist ferner die Frage nach einer möglichen Stimulierung von Malignomzellen. Deshalb wurde auf die mögliche Stimulation eines Tumors während der klinischen Erprobung des Präparates bei Patienten mit verschiedenen epithelialen, mesenchymalen und lymphoiden Malignomen besonders geachtet. Es ergaben sich keine Hinweise auf derartige Wirkungen. G-CSF-Rezeptoren werden auf bestimmten Zellen von akuten myeloischen Leukämien exprimiert. Obwohl in einer begrenzten kontrollierten Studie keine Hinweise gesehen wurden, daß die Gabe der Substanz das erneute Wachstum von leukämischen Zellen beschleunigte, gelten derzeit die Wirkungen von G-CSF auf maligne myeloische Zellen als noch nicht vollständig aufgeklärt.

 


Pharmakokinetik


Das Zytokin wird nach subkutaner Injektion schnell und vollständig absorbiert. Nach Gabe von 5 bis 10 µg/kg Körpergewicht erreichen die Konzentrationen des Peptids nach 2 bis 6 Stunden im Blut die maximalen Konzentrationen und bleiben für 8 bis 16 Stunden in einem Bereich von > 10 µg/l. Die Untersuchungen zur Verteilung und zum Metabolismus sind noch nicht vollständig abgeschlossen. Das durchschnittliche Verteilungsvolumen beim Menschen wird mit 150 ml/kg angegeben. Aus tierexperimentellen Untersuchungen ist bekannt, daß sich die Substanz hauptsächlich im Knochenmark, in den Nebennieren sowie in den Nieren und in der Leber verteilt. Die Eliminationshalbwertzeit liegt bei 3,5 Stunden. Über Veränderungen der Kinetik bei Patienten mit Funktionsstörungen der Ausscheidungsorgane ist zur Zeit noch sehr wenig bekannt.

 


Klinische Erfahrungen


Bei zytostatisch behandelten Patienten mit nicht-myeloischen onkologischen Erkrankungen (z.B. Bronchialkarzinom) wurde Filgrastim eingesetzt und führte zu einer Verringerung der Inzidenz, des Schweregrades und der Dauer einer durch Zytostatika induzierten Neutropenie. Dadurch schützt das Präparat gegen das Risiko einer Infektion und verringert die Notwendigkeit für eine stationäre Antibiotikatherapie. In Placebo-kontrollierten Studien wurde gezeigt, daß die Verminderung der Häufigkeit einer febrilen Neutropenie mit einer signifikanten Verlängerung der infektionsfreien Perioden einhergeht. In einer Studie betrug die Gesamtrate der durch Kulturuntersuchungen bestätigten Infektionen für alle Chemotherapie-Zyklen 6% nach Gabe von G-CSF und 13% unter Placebo.

 


Unerwünschte Wirkungen

 

Erwartungsgemäß ist die Beurteilung von unerwünschten Wirkungen des Präparates schwierig, da einerseits die Zahl der bisher untersuchten Patienten relativ gering ist und andererseits die beobachteten Symptome auch durch die Erkrankung (Malignom) oder durch die Zytostatikatherapie ausgelöst werden können. In Phase I-Studien, in denen die Substanz in Dosen bis zu 115 µg/kg gegeben wurde, gaben 51% der Patienten (n=89) dosisabhängige Nebenwirkungen an. Im Vordergrund stand ein dosisabhängiger Skelettschmerz, dessen Ursache bisher ungeklärt ist. Diese Nebenwirkung wurde als leicht bis mittelschwer bei 10% und schwer bei 4% angegeben. Sternum, Kiefer, Becken, Glieder und Rücken waren typische Lokalisationen. Der Schmerz trat 10 bis 240 Minuten nach der Verabreichung auf und wurde mit schwach-wirksamen oder starken Analgetika behandelt. Bei Patienten mit autologer Knochenmarktransplantation war ein Hautausschlag (ca. 20% der Patienten) die häufigste Nebenwirkung. Auch Miktionsbeschwerden (Dysurie, Leukozyturie) sind im Rahmen der klinischen Studien beobachtet worden. Bisher wurden keine Effekte beschrieben, die darauf hindeuten, daß Filgrastim Zeichen einer Infektion, wie zum Beispiel Fieber oder grippeähnliche Symptome, verursacht.

 


ZUSAMMENFASSUNG:

 

Mit Filgrastim (NEUPOGEN) steht gentechnologisch produziertes G-CSF zur Verfügung, das bei intravenöser oder subkutaner Verabreichung zu einer Erhöhung der neutrophilen Granulozyten im peripheren Blut führt. Bei onkologischen Patienten ist die Gabe dieses Zytokins nicht nur mit einer Erhöhung der Leukozyten verbunden, sondern es senkt auch die Häufigkeit von bakteriellen Infektionen. Knochenschmerzen und Hautausschläge sind die häufigsten Nebenwirkungen. Während die Bedeutung des Präparates für die Hämatologie/Infektiologie evident ist, bleibt abzuwarten, ob es bei weiteren Indikationen eingesetzt werden kann.


Aktuelle Ergänzungen (September 2007)

 

Seit der Erstellung und Veröffentlichung dieses Artikels in der Zeitschrift für Chemotherapie (Heft 2, 1992) sind zahlreiche Arbeiten über Filgrastim publiziert worden. Insbesondere soll an dieser Stelle auf die folgenden Arbeiten hingewiesen werden:

Anderlini, P. und Champlin, R. Drugs. 2002; 62 (Suppl 1):79-88
Welte, K. et al. Blood. 1996; 88:1907-1929.
Frampton, J.E. et al. Drugs. 1994; 48: 731-760.

Seit 2003 steht Filgrastim auch in pegylierter Form als Pegfilgrastim (NEULASTA) mit verlängerter Wirkdauer zur Verfügung.

AAPRO MS, CAMERON DA et al. EORTC guidelines for the use of granulocyte-colony stimulating factor to reduce the incidence of chemotherapy-
induced febrile neutropenia in adult patients with lymphomas and solid tumours. Eur J Cancer. 2006 Oct;42(15):2433-53. Epub 2006 Jun 5.

 

 

Jetzt für den INFEKTIO letter anmelden und regelmäßig per E-Mail Wissenswertes aus Mikrobiologie, Arznei-mittelforschung,Therapie uvm. erhalten.

Informationen für Ärzte und Apotheker zur rationalen Infektionstherapie

Die Zeitschrift für Infektionstherapie (bis 2015: "Zeitschrift für Chemotherapie") erscheint im Jahr 2024 im 45. Jahrgang. Herausgeber und Redaktion sind bemüht, Sie kontinuierlich und aktuell über wichtige Entwicklungen im Bereich der Infektionstherapie zu informieren.

Druckversion | Sitemap
© mhp Verlag GmbH 2023