Cobicistat – ein Ritonavir-Derivat ohne antivirale Aktivität zur „pharmakokinetischen Verstärkung“

Unveränderter Text aus Heft 4, 2017

 

Der Enzyminhibitor Cobicistat (TYBOST) ist eng mit Ritonavir (NORVIR) verwandt. Beide werden zur Hemmung metabolisierender Enzyme eingesetzt, um den Abbau von antiviralen Wirkstoffen zu verzögern. Gewöhnlich wird der Zusatz von Ritonavir durch ein „/r“ im Anschluss an den Substanznamen kenntlich gemacht. Bei Cobicistat wird ein „/c“ hinter den Namen gesetzt. Der Protease-Inhibitor Ritonavir wurde bereits 1996 als einer der ersten Vertreter dieser Arzneimittelgruppe zur antiretroviralen Therapie eingeführt. In einer Dosierung von 2 x täglich 600 mg wurde es in Kombination mit anderen antiretroviralen Wirkstoffen klinisch geprüft. Die Verträglichkeit ließ zu wünschen übrig, das Interaktionspotenzial erwies sich als außergewöhnlich hoch und einige weitere ungünstige Eigenschaften waren bei der Markteinführung offensichtlich. Auffallend waren allerdings die verbesserten pharmakokinetischen Eigenschaften des Protease-Inhibitors Saquinavir (INVIRASE) bei gleichzeitiger Gabe. Etwa fünf Jahre später wurde Ritonavir erstmals in niedriger, antiviral nicht ausreichender Dosierung in einem Kombinationspräparat mit Lopinavir (KALETRA) als Hemmstoff der metabolisierenden Enzyme und Transportproteine in den Handel gebracht. In dieser Kombination wurden die pharmakokinetischen Eigenschaften des Lopinavir entscheidend verbessert und eine Therapie mit dem Wirkstoff erst möglich gemacht. Danach fand das Prinzip der „pharmakokinetischen Verstärkung“ („booster“) breite Anwendung. Proteaseinhibitoren, wie Atazanavir (REYATAZ), Darunavir (PREZISTA), Fosamprenavir (TELZIR), Lopinavir (KALETRA), Saquinavir (INVIRASE), Tipranavir (APTIVUS) und Indinavir (CRIXIVAN) werden heute mit Ritonavir „geboostert“.

 

Es wird jedoch nicht nur mit antiretroviral wirksamen Stoffen kombiniert, sondern findet auch Anwendung in dem Hepatitis-C-Medikament VIEKIRAX, um die Pharmakokinetik von Paritaprevir zu verbessern (vgl. Heft 3/2015; www.infektio.de, Archiv). Bei dieser pragmatischen Verwendung von Ritonavir müssen einige Nachteile in Kauf genommen werden. Wegen der schlechten Löslichkeit bereiten Koformulierungen mit anderen Wirkstoffen Probleme. Es gibt auch Bedenken hinsichtlich einer HIV-Resistenzentwicklung, wenn es in Kombinationen ohne einen anderen Protease-Inhibitor in ausreichender antiviral wirksamer Dosierung verwendet wird.

 

Pharmakologische Aktivität

 

Mit Cobicistat steht ein Wirkstoff zur Verfügung, der spezifischere Eigenschaften aufweist und mit diversen Virustatika zur Anwendung kommt. Die Substanz wurde zunächst als „Schutz“ für den Integrase-Inhibitor Elvitegravir (in: STRIBILD) entwickelt, ist mittlerweile aber auch als Monopräparat im Handel (Tabelle 1).

 

Tabelle 1: Cobicistat-haltige Präparate zur antiretroviralen Therapie

 

 

Handelsname

 

Wirkstoffe

 

TYBOST

 

150 mg Cobicistat

 

STRIBILD

150 mg Cobicistat,

150 mg Elvitegravir,

200 mg Emtricitabin,

245 mg Tenofovir-Disoproxil

GENVOYA

150 mg Cobicistat,

150 mg Elvitegravir,

200 mg Emtricitabin,

10 mg Tenofovir-Alafenamid

REZOLSTA

150 mg Cobicistat,

800 mg Darunavir

EVOTAZ

150 mg Cobicistat,

300 mg Atazanavir

 

Es weist eine sehr ähnliche chemische Struktur auf wie Ritonavir, eine eigene antivirale Aktivität besitzt es jedoch nicht. Durch gezielte Änderungen ist es gelungen, die Wirkung des Ausgangsmoleküls auf die Protease zu beseitigen, seine enzymhemmenden Eigenschaften jedoch zu optimieren (Abbildung 1).

Abbildung 1. Strukturformeln Ritonavir und Cobicistat im Vergleich. Cobicistat besitzt einen Morpholino-Rest anstelle einer Isopropylgruppe. Die für eine antivirale Aktivität erforderliche Hydroxylgruppe fehlt beim Cobicistat.

 

Bei Gabe von Ritonavir werden neben den Isoenzymen CYP3A4, CYP2D6, CYP2C9, CYP2C19 und CYP1A2 auch die Glukuronidierung beeinflusst und einige Effluxproteine, wie das permeability glycoprotein P-GP (= MDR1 oder ABCB1). Bei Cobicistat handelt es sich um einen selektiveren Inhibitor des CYP3A4, mit einer relativ schwachen Wirkung auf CYP2D6. Zum Wirkprofil von Cobicistat gehört allerdings auch die Hemmung von zwei Transportproteinen, dem P-GP und dem multidrug and toxin extrusion protein MATE-1 (= SLC47A1). Hieraus ergeben sich auch für Cobicistat eine Reihe von möglichen Interaktionen mit anderen Arzneistoffen und physiologischen Vorgängen.1,2

 

Pharmakokinetik

 

Die pharmakokinetischen Eigenschaften von Cobicistat werden in der Tabelle 2 zusammengefasst. Eine Studie zur Resorption in Abhängigkeit von der Nahrungsaufnahme wurde nicht durchgeführt. Es wird empfohlen, Cobicistat zum Essen einzunehmen.1

 

Tabelle 2.

Pharmakokinetische Eigenschaften von Cobicistat bei HIV-Patienten nach Mehrfachdosierung

 

Tmax

 

4 Std.

 

Cmax

 

1,2 ± 0,3 mg/l

 

Cmin

 

0,07 ± 0,07 mg/l

 

AUC

 

10,9 ± 3,8 mg x h / l

 

Proteinbindung

 

97 – 98%

 

Metabolismus

 

CYP3A (CYP2D6)

 

Elimination

Faeces: 86%

Urin: 8%

Halbwertzeit

 

3 – 4 Std.

 

 

Unerwünschte Wirkungen

 

In den klinischen Studien ließ sich keine spezifische toxische Wirkung des neuen Wirkstoffs erkennen. Cobicistat und Ritonavir als pharmakokinetische Verstärker von Atazanavir (REYATAZ) wurden in einer Doppelblindstudie direkt verglichen. Alle Patienten erhielten außerdem die Kombination aus Tenofovir-Disoproxil und Emtricitabin (TRUVADA). Schwerwiegende Nebenwirkungen (COBI:1,7%; RTV: 2,9%) und unerwünschte Wirkungen, die innerhalb von 144 Wochen zum Abbruch der Therapie führten (COBI: 11%; RTV: 11,2%), waren in beiden Gruppen sehr ähnlich. Ein geringer Anstieg des Kreatinins zeigte sich in beiden Gruppen, er war unter Cobicistat etwas ausgeprägter.3

 

Der Anstieg von Kreatinin im Plasma wird durch Hemmung des Kreatinintransports via SLC47A1 in der Niere verursacht. Wenn die erhöhten Werte zur Berechnung der glomerulären Filtrationsrate (GFR) herangezogen werden, resultiert eine scheinbare Einschränkung der Nierenfunktion. Eine gezielte Untersuchung der GFR mit Iohexol zeigte jedoch, dass die Nierenfunktion nicht durch Cobicistat beeinträchtigt wird. Ähnliche Veränderungen des Serumkreatinins sind auch mit anderen Arzneimitteln, wie Trimethoprim, Cimetidin oder Dolutegravir beschrieben worden.4

 

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Inhibitoren ist ihr Einfluss auf den Pregnan-X-Rezeptor (PXR), der die Expression zahlreicher metabolisierender Enzyme reguliert. Durch Wirkung auf PXR induziert Ritonavir mehrere CYP-Enzyme und auch Enzyme der Phase-2, wie die Glukuronidierung. Die Wirkung von Cobicistat auf diesen Rezeptor ist deutlich schwächer, induzierende Wirkungen sind daher unwahrscheinlich.5

 

Detaillierte Informationen über Interaktionen zwischen Cobicistat bzw. Ritonavir und anderen Arzneistoffen zur antiretroviralen Therapie finden sich auf der Internetseite der Universität Liverpool (www.hiv-druginteractions.org).

 

ZUSAMMENFASSUNG

 

Cobicistat (TYBOST) ist ein Hemmstoff von CYP3A und einigen Transportproteinen ohne antivirale Wirkung. Im Vergleich zu Ritonavir (NORVIR), das ebenfalls als pharmakokinetischer Verstärker („booster“) eingesetzt wird, handelt es sich bei Cobicistat um einen spezifischeren Hemmstoff ohne Wirkung auf den Pregnan-X-Rezeptor und damit ohne induzierende Eigenschaften. Bei einer Umstellung von Ritonavir auf Cobicistat müssen die gleichzeitig gegebenen Arzneimittel sorgfältig auf mögliche Änderungen in der Dosierung geprüft werden. Die Internetseite der Universität Liverpool www.hiv-druginteractions.org ist dabei hilfreich.

 

Literatur:

 

1. Fachinfo TYBOST, Gilead, April 2016 www.fachinfo.de

(TYBOST EMA Product Information)

 

2. Sherman EM, Worley MV, Unger NR, Gauthier TP, Schafer JJ. Cobicistat: Review of a Pharmacokinetic Enhancer for HIV Infection. Clin Ther. 2015 Sep 1;37(9):1876-93

 

3. Gallant JE, Koenig E, Andrade-Villanueva JF, Chetchotisakd P, DeJesus E, Antunes F, Arastéh K, Rizzardini G, Fehr J, Liu HC, Abram ME, Cao H, Szwarcberg J. Brief Report: Cobicistat Compared With Ritonavir as a Pharmacoenhancer for Atazanavir in Combination With Emtricitabine/Tenofovir Disoproxil Fumarate: Week 144 Results. J Acquir Immune Defic Syndr. 2015 Jul 1;69(3):338-40

 

4. von Hentig N. Clinical use of cobicistat as a pharmacoenhancer of human immunodeficiency virus therapy. HIV AIDS (Auckl). 2015 Dec 22;8:1-16

 

5. Marzolini C, Gibbons S, Khoo S, Back D. Cobicistat versus ritonavir boosting and differences in the drug-drug interaction profiles with co-medications. J Antimicrob Chemother. 2016 Jul;71(7):1755-8

 

 

 

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