Unveränderter Text aus ZCT Heft 2, 1985
(als PDF-Datei im Archiv der Zeitschrift)
Aktuelle Ergänzungen am Ende des Textes
Mecillinam unterscheidet sich geringfügig von allen anderen bisher bekannten Penicillinen: es ist kein Acylierungsprodukt der 6-Aminopenicillansäure, besitzt aber das von den Penicillinen her
bekannte Grundgerüst.
Strukturformel Pivmecillinamhydrochlorid. Der charakte-ristische Teil des Moleküls ist blau hinterlegt. Durch die Amidinostruktur unterscheidet sich das Derivat von allen anderen ß-Laktamantibiotika, bei denen die Seitenketten als Amide der 6-Aminopenicillansäure verknüpft sind.
Das Derivat hat seit seiner Entdeckung vor bereits 13 Jahren beachtliches wissenschaftliches Interesse gefunden. Seit einigen Monaten wird es in der Bundesrepublik in Form des Resorptionsesters Pivmecillinam angeboten. In dem Präparat MIRAXID liegt diese oral wirksame Substanz in fester Kombination mit Pivampicillin (MAXIFEN) vor.
Mecillinam verfügt über einen etwas anderen Wirkungsmechanismus als die üblichen Penicilline und Cephalosporine.[1]
Untersuchungen über die Bindung mehrerer ß-Laktam-Antibiotika an bakterielle Proteine lassen diesen Schluß zu. Danach bindet sich Mecillinam bevorzugt an das "Penicillin-bindende Protein Nr. 2
(PBP2)" und induziert so die Ausbildung von kugelförmigen Bakterienzellen (vgl. ZCT 2: 42-43, 1981).
Mecillinam wirkt gegen einige Keime des gramnegativen Bereichs wie z.B. E. coli, Enterobacter, Proteus mirabilis, Salmonellen und andere. Die minimalen Hemmkonzentrationen, bei denen mindestens 90%
der getesteten Stämme gehemmt werden (MHK90), liegen bei den meisten dieser Keimarten über 10 mg/l. Nur Salmonellen scheinen eine Ausnahme zu machen (MHK90 0,8-1,6 mg/l).[2] Pseudomonas und
Bacteroidesarten verhalten sich grundsätzlich resistent. Ähnlich ist die Situation bei den indolpositiven Proteusstämmen und auch bei Hämophilus influenzae.
Im gesamten grampositiven Bereich besitzt Mecillinam keine therapeutisch relevante Aktivität. Besonders die Unempfindlichkeit von S. faecalis ("Enterokokken") und von Koagulase-negativen
Staphylokokken ist mit Blick auf die Indikation "Harnwegsinfektionen" von Bedeutung.
Die klinisch wichtigen Lücken im Spektrum des Mecillinam werden durch die Kombination mit Ampicillin (AMPI-TABLINEN, BINOTAL u.a.) weitgehend geschlossen. Andererseits sprechen die meisten
Ampicillin-resistenten Enterobakterien auf Mecillinam an. Schon vor etwa 10 Jahren wurde erkannt, daß Mecillinam synergistisch wirken kann, wenn es mit anderen ß-Laktam-Antibiotika kombiniert gegen
gramnegative Keime getestet wird. Dieser Effekt läßt sich je nach Keimart bei 20 bis 100% der Isolate nachweisen und ist in hohem Maße von den experimentellen Bedingungen abhängig. [2]
Zwischen den beiden in dem Kombinationspräparat eingesetzten Substanzen besteht im allgemeinen keine Parallelresistenz; eine Ausnahme machen eventuell ß-Laktamase-bildende Bakterien, denn beide
Derivate sind nicht stabil gegenüber diesen bakteriellen Enzymen. Es muß allerdings betont werden, daß die ß-Laktamaseproduktion eines Erregers ihn nicht zwangsläufig resistent werden
läßt.
Mecillinam wird nicht vom Gastrointestinaltrakt absorbiert. Durch Veresterung mit Pivalinsäure konnte jedoch eine befriedigende Resorptionsrate von etwa
60-75% erreicht werden. Der "Einschleuß-Ester" wird während der Resorption gespalten und der Wirkstoff freigesetzt. Nach oraler Gabe von 200 mg Pivmecillinam werden Serum-Spitzenkonzentrationen von
etwa 2,4 mg/l Mecillinam nach 1 bis 2 Stunden erzielt. Die Ampicillin-Spitzenspiegel liegen nach Einnahme einer MIRAXID-Tablette mehr als dreimal so hoch (7,9 mg/l). Beide Substanzen werden im Serum
nur unbedeutend (unter 20%) an Protein gebunden. Die Eliminationshalbwertzeiten liegen für beide Penicilline bei etwa 1 Stunde. Innerhalb von 24 Stunden lassen sich 45% des eingenommenen Mecillinams
und etwa 75% des Ampicillins im Urin wiederfinden. Bei Niereninsuffizienz ist die Ausscheidung reduziert - die Dosierungsrichtlinien müssen den Ausscheidungsverhältnissen angepaßt werden, um eine
Kumulation zu vermeiden. [3]
Die meisten therapeutischen Studien mit Pivmecillinam bzw. mit dem Kombinationspräparat wurden bei Harnwegsinfektionen durchgeführt. Für diese Indikation
erscheint es aufgrund des Wirkungsspektrums am ehesten geeignet, und hier erwies es sich erwartungsgemäß als ebenso wirksam wie einige andere Chemotherapeutika. [4]
Relativ geringfügige Unterschiede im Vergleich zur klinischen Wirksamkeit konkurrierender Substanzen - bzw. zu den Einzelkomponenten, mit denen die Überlegenheit des Präparates nachgewiesen werden
soll - können letztendlich nicht überzeugen und dürften in vielen Fällen eine Frage der gewählten Dosierung sein. In der Bundesrepublik lauten die üblichen Dosierungsempfehlungen für Pivampicillin 3
x tgl. 0,7 bis 1,0 g oder für Amoxicillin (AMOXI-TABLINEN, CLAMOXYL u.a.) 3 x tgl. 0,5 bis 1,0 g. Diese Dosierungen wurden in den vorliegenden Studien jedoch niemals eingesetzt.
Beim randomisierten Vergleich von 3x250 mg Pivampicillin gegen 3x100/125 mg des Kombinationspräparates bei chronischer Bronchitis wurde eine vergleichbare Wirksamkeit bei 91 bzw. 90% der behandelten
Patienten ermittelt.[5]
Der Einsatz eines Mecillinam-haltigen Präparates bei purulenter Bronchitis ist sicherlich nicht ohne weiteres akzeptabel. Pneumokokken und Hämophilus influenzae - die zusammen etwa 90% der
bakteriellen Bronchitiden verursachen - gehören beide nicht zum Spektrum des Mecillinam. Es erscheint abenteuerlich, nur aufgrund eines synergistischen Effektes, der sich nicht einmal bei allen
Stämmen dieser Bakterien nachweisen läßt, die Kombination zu empfehlen. Wahrscheinlicher ist vielmehr, daß der klinische Erfolg durch die Ampicillin-Komponente getragen wird. Diese obengenannten
Keime werden in der MIRAXID-Information auch als Leitkeime der "Laryngitis" und "akuten Bronchitis" bezeichnet. Wir halten es für notwendig, daran zu erinnern, daß diese Krankheitsbilder natürlich
ganz überwiegend viraler Genese sind und eine bakterielle Ursache eher die Ausnahme ist. Antibiotika sind bei "akuter Bronchitis" nur selten indiziert. Auch "Pneumonie" und "Otitis media" halten wir
aus ähnlichen Gründen keineswegs für sinnvolle MIRAXID-Indikationen.
Die vom Hersteller (Arznei Müller-Rorer, Bielefeld) zusammengestellte Produktinformation besticht vor allem durch ihre graphische Qualität.[3] Die Literaturangaben lassen dagegen einige Wünsche
offen: 10 von 22 Zitaten tragen den Zusatz "unveröffentlicht". Es handelt sich dabei überwiegend um klinische Studien zum Einsatz von MIRAXID bei purulenter Bronchitis. Solange diese und andere
Indikationen nicht durch bessere klinische Daten abgesichert werden, halten wir das neue Präparat nur bei Harnwegsinfektionen für angebracht. Die bei "akuten, unkomplizierten Infektionen" empfohlene
Dosierung von 2-mal täglich 1 Tablette (= 250 mg Pivampicillin und 200 mg Pivmecillinam) steht allerdings nicht in Einklang mit den antibakteriellen und pharmakokinetischen Eigenschaften der
Arzneistoffe. Die Einnahme von 3-mal täglich 2 Tabletten entspricht eher den Prinzipien einer rationalen antibakteriellen Chemotherapie.
In der wissenschaftlichen MIRAXID-Broschüre wird eine Nebenwirkungsfrequenz von 8 bis 11% der Patienten angegeben. Am häufigsten waren Beschwerden von
seiten des oberen Gastrointestinaltraktes. Allergische Symptome scheinen nach Mecillinam nur relativ selten vorzukommen. Nach Ampicillin werden gewöhnlich Exanthemraten bis zu 10% und mehr berichtet.
Da MIRAXID ebenfalls Ampicillin enthält, überrascht die Angabe des Herstellers, daß nur bei 22 von über 2.000 Patienten (0,9%) Hautausschläge während der klinischen Prüfung beobachtet wurden.[3] Die
sehr niedrige Dosierung könnte als Begründung diskutiert werden, denn das typische Ampicillin-Exanthem scheint dosisabhängig aufzutreten.
Pivmecillinam wird seit kurzem in der Bundesrepublik zur Therapie bakterieller Infektionen angeboten. Es stellt die oral wirksame Form des Mecillinam dar.
In dem Handelspräparat MIRAXID liegt es in Kombination mit Pivampicillin (MAXIFEN) vor.
Mecillinam unterscheidet sich im Wirkungsmechanismus von den bisher bekannten Penicillinen geringfügig. Es wirkt gegen die meisten gramnegativen Erreger, besitzt aber keine relevante Wirksamkeit im
grampositiven Bereich. Es ist - ähnlich wie Ampicillin - nicht ß-Laktamase-fest. Die Wirkungslücken der Kombinationspartner gleichen sich teilweise aus. Bei einigen gramnegativen Erregern ist ein
Synergismus feststellbar.
Die klinische Bedeutung der wissenschaftlich interessanten Substanz ist noch nicht abschließend beurteilbar. Sicher kann es auf die lange Liste der Harnwegs-Chemotherapeutika gesetzt werden -
spezielle Bedeutung hat es nur, wenn die Erreger gegen andere Wirkstoffe resistent sind. Der relativ hohe Preis wird ein Hindernis auf dem Weg zur routinemäßigen Verordnung von MIRAXID bei
Harnwegsinfektionen sein. Die Verwendung des neuen Präparates bei bakteriellen Infektionen der oberen und unteren Atemwege ist nicht sinnvoll.
1 SPRATT, B.G. J.
Antimicrob. Chemother. 3: 13-22 (Suppl. B), 1977
2 NEU, H.C. Am. J. Med. 5, Suppl.: 9-20, 1983
3 MIRAXID-Information, Arznei Müller-Rorer, Bielefel
4 Editorial Lancet 1: 252-253, 1978
5 BUKH, N.
Pharmatherapeutica 3: 422-428, 1
Ergänzungen (2000)
Das Kombinationspräparat ist von historischem Interesse; andere Penicilline, wie zum Beispiel Amoxicillin (allein oder in Kombination mit Clavulansäure)
oder Ampicillin (± Sulbactam) werden stattdessen angewandt.
Das Kombinationspräparat aus Pivmecillinam und Pivampicillin ist in Deutschland heute nicht mehr im Handel.
Ergänzungen (2015)
Vor dem Hintergrund eines Mangels an möglichen Antibiotika zur Behandlung unkomplizierter Harnwegsinfektionen wird heute Pivmecillinam wieder empfohlen. Es kann verwendet werden für die Behandlung einer akuten unkomplizierten Zystitis bei Erwachsenen. In Deutschland ist es unter dem Namen X-SYSTO wieder im Handel. Eine Filmtablette enthält 400 mg Pivmecillinamhydrochlorid. Dosierung: 3 mal täglich 400 mg, 3 Tage lang.
siehe Leitartikel
Therapie des unkomplizierten Harnwegsinfektes bei Erwachsenen im Heft 5/2013 dieser Zeitschrift (Archiv der Zeitschrift).
Wagenlehner, F.M.E. et al. Klinische Leitlinie: Unkomplizierte Harnwegsinfektionen. Dtsch Ärztebl 2011; 108 (Heft 24):415